Was macht der Terror aus uns? Dieser Frage ist die Autorin Gila Lustiger nach den Terroranschlägen in ihrer Heimatstadt Paris am 13. November nachgegangen. Ihren Erkenntnisprozess hat sie in den Essay „Erschütterung. Über aTerror“ einfließen lassen, der heuer im Berlinverlag erschienen ist. Am Mittwochabend las sie daraus in einer gut besuchten Veranstaltung im Rottmayr-Gymnasium.

„Ich will als denkender und zivilisierter Mensch auf Terror reagieren“, lautet Lustigers Anspruch an sich selbst. Tatsächlich ist ihre Reaktion auf die „aus den Fugen geratene Welt“ die einer weltoffenen Intellektuellen: Durch Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und die Lektüre ihrer Lieblingsautoren versucht sie, die stürmische See ihrer Erschütterung zu überwinden und neues Land zu gewinnen. Dies gelingt ihr schließlich mithilfe eines Vortrags, den Hannah Arendt 1958 in Bremen gehalten hat. Der Schlüsselsatz darin lautet: „Weil die Welt von Sterblichen gemacht wurde, nutzt sie sich ab.“

Für Gila Lustiger beinhaltet dieser Satz zwei Aspekte, die ihr helfen, ihre Erschütterung geistig zu verarbeiten: Zum einen die Erkenntnis, dass eine aus den Fugen geratene Welt die menschliche Grundsituation und nicht der Ausnahmezustand ist, zum anderen die Handlungsaufforderung, angesichts dieser Tatsache am Gelingen einer besseren Welt mitzuarbeiten, oder, um es mit Hannah Arendt zu sagen: „Die Welt Tag für Tag ein Stückchen einzurenken“.

Im Angesicht des Terrors ergeht es der Autorin nicht besser als den meisten anderen: Im Minutentakt sammelt sie Informationen aus dem Internet, um zu erfahren, „was uns da überrollte“. Ja, geradezu „informationssüchtig“ sei sie geworden. Das nimmt ihren Geist völlig in Anspruch, ehe die Phase der Selbstreflexion einsetzt: Sie begreift, dass sie sich keinen Gefallen damit tut, massenhaft ungefilterte Informationen aufzusaugen. Objektiv betrachtet, wäre es sinnvoller gewesen, ihr Schreibzimmer aufzuräumen, sagt sie. Sie habe zuvor in Israel gelebt, wo der Terror alltäglich sei. Dort seien  Psychologen zu der Erkenntnis gekommen, dass eine Informationsflut über das Grauen völlige Passivität erzeuge, also auch ein Gefühl der Hilflosigkeit.

Gerade dieses quälende Gefühl der Hilflosigkeit hätten die Menschen in Frankreich nach den Anschlägen nicht akzeptieren können. Deshalb habe sie sich gefragt: Was bringt einen dazu, andere umzubringen? Eine weitere Frage lautet: „Was macht Terror aus uns?“ Antworten auf diese Fragen habe sie mit ihrem Essay versucht.

Die Bestandsaufnahme macht beklommen: Die meisten Attentäter kamen aus jenen Banlieus, die 2005 „Feuer fingen“. Sie hätten für sich keine Perspektive gesehen und sich so lange radikalisiert, bis sie sich nicht mehr zur französischen Gesellschaft gehörig fühlten. Wie könne es so weit kommen, dass sich junge Menschen gerade im Land „der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ dermaßen ausgegrenzt fühlen?

Lustigers Blick geht immer wieder zurück auf das Jahr 2005. Staatspräsident Jacques Chirac habe damals von einer „Sinn- und Orientierungskrise der jungen Leute“ gesprochen und an die Verantwortung der Eltern appelliert, ihren Kindern Orientierung zu geben und ihnen Werte zu vermitteln. Der rechtsradikale Politiker JeanMarie Le Pen habe erwidert: Chiracs Kinder seien „soziale Atombomben“. Das sollte sich leider bewahrheiten. Fast alle Attentäter hätten sich vor den Anschlägen in Syrien aufgehalten, wo sie militärisch ausgebildet wurden.

Drastisch formuliert Gila Lustiger: „Terror ist die radikalste Integrationsverweigerung.“ In Frankreich schafften es mehr Migrantenkinder durch das Abitur und auf die Uni als in Deutschland. „Andererseits gibt es dort nichts, das sie auffängt, wenn sie es nicht schaffen.“

Was läuft falsch an Frankreichs Schulen? Die Fachliteratur über Psychologie, Erziehung und Migration, die sie für ihre Recherche las, habe ihr nicht weitergeholfen. Erst die Lektüre Hannah Arendts habe sie auf den entscheidenden Gedanken gebracht. Arendt spreche davon, dass erstens Autorität und zweitens Qualifikation einen guten Lehrer ausmachen würden: „Während seine Qualifikation darin besteht, dass er die Welt, über die er belehrt, kennt, beruht seine Autorität darauf, dass er für ebendiese Welt Verantwortung übernimmt.“

Als Beispiel, was damit gemeint sein könnte, führt Lustiger die Muslima Latifa Ibn Ziaten an: Seit der Ermordung ihres zweitältesten Sohns Imad durch einen Terroristen „geht sie in die Schulen der sozialen Brennpunkte und erzählt den Jugendlichen von ihrem Sohn und seinem Mörder, Mohamed Merah“. Latifa habe einen „Verein für den Frieden“ gegründet und organisiere für Jugendliche aus den Banlieus, die gefährdet sind, indoktriniert zu werden, Begegnungen mit dem „Feind“. In einem Radiointerview habe sie ihre Motivation erklärt: „Ich wollte mir anschauen, wo Merah aufgewachsen ist. Ich bin in sein Viertel gegangen und stieß dort auf eine Gruppe Jugendlicher. Wir kamen ins Gespräch, und sie sagten mir, dass Merah ein Held und Märtyrer sei, und ich sagte ihnen, wer ich bin.“

Erziehen, so wie Hannah Arendt es verstanden habe, bedeute, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein „Einrenken“ der sich ständig abnutzenden Welt überhaupt noch möglich ist, auch wenn es keinesfalls gesichert sei, dass es immer gelinge. „Es gibt für mich keine tröstlichere Vorstellung als zu wissen, dass Menschen tagtäglich ein wenig die Welt einrenken, damit sie uns als Heimat dienen kann.“ Mit Arendt zusammen appellierte Gila Lustiger an ihr Publikum: „Wir selbst sind es, die die Verantwortung für diese Welt tragen.“ – rgz

Martha Bauer-Gantner (links), die den Kontakt hergestellt hat, stellte Gila Lustiger vor, die in Frankfurt am Main aufgewachsen ist und seit 30 Jahrenin Paris lebt. In der Mitte der stellvertretende Schulleiter Maurice Flatscher,der sich bei der Autorin mit einem Geschenk der Schule bedankte.

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